Hans-Christian Schink

„EUR“

Durch Pasolinis Filme der 60er kennen wir vor allem die römischen Außenbezirke und Vororte Roms: Garbatella, Pigneto, EUR, Ostia. Der Filmemacher zeigte durch seine Werke dem Publikum die nackte Wirklichkeit. Seitdem hat der italienische Neorealismus nichts an Faszination verloren. Er besitzt eine kühle, reale Ästhetik, meist sind es in Schwarz-Weiß gehaltene Film- und Fotografieaufnahmen, die brutal und nüchtern die Realität beschreiben. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich Hans-Christian Schink der Stadt Rom nicht mit opulenten Bildern nähert – die bisher auch nie sein fotografisches Œuvre ausmachten –  sondern dass er in dieser monumentalen Stadt eine ganz zurückgenommene Bildsprache sucht und findet.

Das Pantheon, das Forum Romanum – fast unmöglich scheint ein klarer Blick auf die über 2500 Jahre alten Steine. Meist wird die Architektur von Menschenmassen verdeckt, die weder Tag noch Nacht kennen. Keine Langzeitbelichtung schafft es, die Menschenansammlungen aus den Bildern zu verbannen.

Hans-Christian Schink nähert sich in dieser Serie EUR behutsam dem Quartiere EUR und er scheint mit Pasolinis Ansatz mitzuschwingen, der die Sequenz, den Filmstill zu zelebrieren wusste – waren doch auch die italienischen Neorealisten Dichter der Bilder.

Wenn man Schinks Arbeitsweise kennt, so weiß man, dass er nichts dem Zufall überlässt. Er komponiert das Vorhandene, das Urbane, das Monumentale und die Leere dazwischen. Der Zufall wird so lange wie möglich aus dem Bild herausgehalten, selbst wenn er sich manchmal ganz leise einzuschleichen vermag. Auch ein Himmel darf die Komposition nicht stören. In diesen Bildern sind die Kontraste in Graustufen  heruntergebrochen: Es gibt keinerlei Schwarz-Weiß-Kontraste, die die Fotografie grafisch akzentuieren. Im Gegenteil, der Himmel fügt sich geschmeidig ins Bild. Dieser Himmel  umhüllt  dadurch umso konsequenter die Fluchtpunkte, die Achsen und die Materialien. Sichtbar wird eine eigentümliche Schönheit der Architektur, eine Nüchternheit, eine Klarheit und eine Strenge.

„EUR erscheint funkelnd und makellos, fotografiert in Schwarz-Weiß und so als wäre dieses Stadtviertel gerade eben erst eröffnet worden, kraftvoll und hyperarchitektonisch in seinen Mauern aus Stein, in den Säulengängen, in den Oberflächen aus Marmor. Der Sinn der metaphysische Leere änderte sich in diesem Fall; sie schließt das Leben aus und sie betont in höchster Intensität das urbane Szenario des Projekts, das durch Marcello Piacentini orchestriert und von allen oder fast allen Architekten seiner Zeit realisiert wurde – es waren die modernsten Architekten  der 30er, die es in Italien gab.“

Pippo Ciorra, Senior Curator MAXXI Architettura

Bei aller Stringenz und Stärke, die Schink in seinen Arbeiten walten lässt, von jeder Reise kommt er mit neuen, mit überraschenden Bildern zurück. Es sind Serien, die fein und raffiniert im Konzept und in der Komposition sind. Mit seiner Plattenkamera beobachtet er.  Er hält die Zeit an oder er verlangsamt sie, aber vor allem verdichtet er einen Gedanken. Das Bild ist das Konzentrat des Gedankens ohne Ablenkung.

Die Bilder verdichten sich im Brennpunkt, das Auge fokussiert die Sichtachsen, sein Blick erkennt die Essenz des Bildes.

In dieser Serie EUR gibt es keine Menschen. Die Straßen sind leer.

EUR wurde vor allem von Architekten erdacht und erbaut, die sich vormals mit  Giorgio de Chiricos Metaphysik auseinandersetzten. Dieses Viertel ist lange eine Geisterstadt geblieben, kaum Leben, kaum Cafés, keine Bars. Es ist ein auf dem Reißbrett entworfener Stadtteil, selbst die Natur wurde mit einem künstlichen See hineingezeichnet. Die einzigen Spuren, die der Mensch neben den Monumentalbauten hinterließ, sind die gemeißelten, großen Lettern. Es sind heroische Überschriften wie „CIVILTÀ ROMANA“. Aber Hans-Christian Schink geht es gar nicht um heroische Größenordnungen. Er muß dort etwas anderes gefunden haben. Die Kraft des Materials und die Sensibilität einer Linie, die den Himmel schneidet. Beide zusammen sind stärker als jegliche Interpretation.

So ist diese Serie nüchtern und frei. Sie birgt eine Sachlichkeit, die nicht erklärt, sondern beobachtet. Schink ist Beobachter, der zuerst einmal den Menschen aus dem Raum verbannt, um ihm dann diesen wieder zurückzugeben. Klar, beständig und ohne Sentimentalitäten.

 

Nadine Ethner / August 2016


© all images by Hans-Christian Schink / Courtesy: Galerie Rothamel Erfurt und Frankfurt/M., Galerie Kicken Berlin // Publikation: Kehrer Verlag