Anne Heinlein „Geheimes Land“

„Es gibt sehr viele Dinge, die passiert sind. Es sind unfassbare Dinge passiert, sie haben mir den Atem genommen, als ich die Akten auf dem Tisch hatte und diese einsehen durfte. Ich hatte diese Schwere nicht vermutet, hatte nicht vermutet, dass es so schlimm war. Umso wichtiger ist es, hinzuschauen und es auch heute noch zu zeigen. Ein großes Geschenk für mich ist, dass ich keine Historikerin bin, sondern ich bin Künstlerin und ich ermögliche den Betrachtern oder den Besuchern der Ausstellung und allen, die das zulassen, eine Auseinandersetzung mit der Geschichte auf einer künstlerischen Ebene.“–Anne Heinlein

VTph magazine: Anne, die Nominierung des Deutschen Fotobuchpreises 2023/24 ging an dich, du erhieltest die Silbermedaille für dein Fotobuch „Geheimes Land“ in der Kategorie Künstlerische Fotografie. Außerdem warst du Preisträgerin des Lotto Brandenburg Kunstpreis Fotografie 2023. Erzähl´ uns gern mehr über deine Arbeit und über das Buch.

Anne Heinlein: „Geheimes Land“ ist eine Arbeit, für die ich einige Jahre recherchiert und an der ich lange gearbeitet habe. Und ich sehe auch, dass die Arbeit an der Wand eine andere Arbeit als im Buch ist – sie wird vom Betrachter auch anders wahrgenommen. Im Buch sind die Fotografien gleichberechtigter, an der Wand haben sie oftmals verschiedene Größen und somit unterschiedliche Wertungen. Diese Wertungen haben sie im Buch nicht, dem Betrachter und Leser werden sie hier als eine geschlossene Einheit präsentiert.

Andererseits hat auch die Textebene natürlich eine sehr viel größere und freiere Bedeutung als in einer Ausstellung. Normalerweise bringt man ja als bildender Künstler oder Künstlerin erst einmal die Fotografien an die Wand, macht also zuerst eine Ausstellung und später kommt das Buch begleitend dazu heraus. Während der Pandemie war es für uns Künstler und Künstlerinnen jedoch schwierig, Ausstellungen zu machen. Daher hatte ich mich damals entschlossen, zuerst ein Buch zu publizieren und erst später die Ausstellung umzusetzen, die nun für November 2024 geplant ist. Über die Nominierungen haben wir uns alle sehr gefreut, denn damit haben wir nicht gerechnet.

Uta Oettel hatte mit ihrer Gestaltung meines Buches „Geheimes Land“ noch einmal einen sehr eigenen Blick auf die Bilder geworfen, und wenn man selbst noch nicht die eigenen Fotografien an der Wand gesehen hat und die Arbeit für sich noch nicht nicht abgeschlossen hat, ist man natürlich offener für den Blick anderer auf die eigenen Bilder. Vor allem hatte Uta die verschiedenen Ebenen gut voneinander getrennt. Sie hatte die Idee gehabt, die Schwarzweißaufnahmen von den militärischen Sperrgebieten wie einen Film an den Anfang zu stellen – einen Film, aus dem man erst einmal gar nicht herauskommt. Als Betrachter ist man die ganze Zeit in einem Wald gefangen und kommt aus diesem auch nicht so schnell heraus. Ab und zu gibt es jedoch einen Blitz, eine Art Flash, den wir von der Tatortfotografie kennen…

VTph magazine: …der Blitz als gestalterisches Element, der dich zurück in die Vergangenheit bringt?

AH: Genau, die Vergangenheit und die anderen Ebenen dahinter werden so auch noch einmal angedeutet. Ganz bewusst habe ich mich entschieden, die Aufnahmen der Sperrgebiete, die eigentlich die Gegenwart sind, schwarzweiß zu fotografieren, obwohl schwarzweiße Fotografien oft für das Vergangene stehen. Die Blitze in die Vergangenheit wiederum, werden konträr dazu in Farbe gezeigt. Die Arbeit lebt von den verschiedenen Zeitebenen und spielt gleichzeitig damit. Außerdem schafft Schwarzweiß, die Wirklichkeit zu abstrahieren, sodass sich die Naturbühnen, die entstanden sind, inhaltlich auch gut füllen lassen.

So haben sich die Abstraktionsebenen auch noch einmal erweitert und diese Ebenen haben sich durch das ganze Buch durchgezogen. „Geheimes Land“ ist eine Arbeit über militärische Sperrgebiete in der ehemaligen DDR, es umfasste ca. 12 Prozent des gesamten Territoriums. Das ist natürlich flächenmäßig eine unfassbar hohe Zahl. Viele können es sich kaum vorstellen, dass es so viel war. Und andererseits: Ich bin in Potsdam geboren und aufgewachsen und es gab selbst hier in meiner Stadt mehrere Sperrgebiete.

Es waren Orte, an die man nicht herankam. Am Heiligen See war ein Stadtteil abgesperrt, in das wir Potsdamer nicht hineinkamen. Es wurde das verbotene Städtchen genannt. Heute gibt es dort alte, schöne, restaurierte Villen. Damals waren diese Villen vom Rest der Stadt abgegrenzt. Das war damals alles ganz normal und wurde nicht in Frage gestellt. Die Menschen lebten dort, als wäre es selbstverständlich und arrangierten sich damit. Diese 12 Prozent Fläche wurden vorrangig von den ehemals sowjetischen Streitkräften und von der ehemaligen NVA der DDR militärisch genutzt. Brandenburg hatte dabei den größten Anteil. Aber es gab auch Sperrgebiete in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und in Mecklenburg-Vorpommern. Ich hatte damals mit der Arbeit begonnen, als ich 2018 das Stipendium im Künstlerhaus Lukas in Ahrenshoop hatte. Die schöne Halbinsel Zingst war auch ein altes, militärisch genutztes Gebiet. Zum Teil haben die Sperrgebiete auch schon eine 300 Jahre alte militärische Geschichte, die sich an diesen Orten übereinanderschichtet.

VTph magazine: Die Besetzung dieser Gebiete setzte sich so auch über verschiedene Generationen und Systeme fort?

AH: Richtig, es gibt auch noch Bunker in diesen Gebieten, die vom Kaiser gebaut wurden. Durch viele Zeiten sind diese Orte und ist diese Landschaft missbraucht worden, umgenutzt worden und auch besetzt worden. Und jetzt, wo eigentlich diese Landschaftsregionen wieder losgelöst und wieder frei sein könnten, sind sie in der Regel so kontaminiert ist, dass kein Mensch hinein kann.

VTph magazine: Du verweist auch auf die eingelagerte Munition, die im Hochsommer hochexplosiv ist?

AH: Genau: Munition oder chemischen Stoffe, die irgendwo eingelagert wurden, machen ja heute aus diesen Gebieten auch wieder Sperrgebiete. Als Außenstehender kommt man in die Gebiete nicht ganz so leicht hinein und braucht auch immer jemanden, der einen durchführen kann und auch zeigen kann, wo man hintreten darf und wo nicht. Im Sommer ist die Gefahr im Hinblick auf Waldbrände sehr groß und auch eine Feuerwehr kann nicht einfach so in diese Gebiete gelangen, um zu löschen.

Das alles floss in meine Grundidee mit ein, ich wollte dort nachspüren und habe mich gefragt, was macht das mit so einem Ort, mit so einer Landschaft, die vormals ursprüngliche Landschaft war und dann zu einem Ort gemacht wird, an dem sich über viele Jahre Zeit und Geschichte ansammelt und dort Dinge passieren, die zum großen Teil auch nicht an die Öffentlichkeit kommen durften.

Was macht das mit dem Ort, wenn ich da stehe? Was machen meine eigenen Erinnerungen mit mir, die ich an diese Zeit habe, an meine Kindheit und an meine Eltern, die immer gesagt haben, ich soll mich nicht ansprechen lassen? Die latenten Gefahren waren ja immer da und das haben meine Recherchen in der Stasi-Unterlagen-Behörde auch gezeigt. Diese ganzen Ebenen wollte ich in meinem Buch „Geheimes Land“ zusammenbringen und übereinanderlagern. Geschichte und Geschehenes ist nie Schwarzweiß, es gibt nie nur das Gute und das Böse. Das Extrem gibt es natürlich auch. Aber es gibt wahnsinnig viel dazwischen.

VTph magazine: Siehst du dich auch als ein Sprachrohr für andere, die nicht darüber sprechen wollen und dort nicht hingehen können oder dort nicht hinschauen wollen – oder siehst du dich eher als Katalysator, der etwas beschleunigt und dabei diese Informationsfülle nutzt und aufarbeitet?

AH: Was ich sehr wichtig finde, ist, dass wir als Künstler Geschichte differenzierter aufarbeiten können, und dass man begreift, dass es keine einzige und absolute Wahrheit gibt, sondern dass es viele Wahrheiten gibt. In der künstlerischen Auseinandersetzung ist es mir möglich, mit Zeitzeugen, mit Dokumenten, mit eigenen Erfahrungen und Erinnerungen – die ja auch oft ein Strich durch die Rechnung machen – diese Geschichte anzuschauen und tief in sie hineinzutauchen. Erinnert man sich an das, was man erlebt hat oder ist es das, was die Eltern einem erzählt haben? Oder sind es nur die alten Fotos und Bilder, die man noch von jener Zeit hat, an die man sich erinnert und nur dadurch ein Gefühl für die damalige Zeit entsteht?

Es gibt sehr viele Dinge, die passiert sind. Es sind unfassbare Dinge passiert, sie haben mir den Atem genommen, als ich die Akten auf dem Tisch hatte und diese einsehen durfte. Ich hatte diese Schwere nicht vermutet, hatte nicht vermutet, dass es so schlimm war. Umso wichtiger ist es, hinzuschauen und es auch heute noch zu zeigen. Ein großes Geschenk für mich ist, dass ich keine Historikerin bin, sondern ich bin Künstlerin und ich ermögliche den Betrachtern oder den Besuchern der Ausstellung und allen, die das zulassen, eine Auseinandersetzung mit der Geschichte auf einer künstlerischen Ebene. Das wäre in einem normalen, einfachen Geschichtsbuch so nicht möglich. Ich vermittle mit meinen Bildern – dadurch, dass sie so vielschichtig sind und verschiedene Ebenen haben – ein Gefühl für die damalige Zeit. Es entstehen Räume, in denen man sich wiederfinden kann und die man nachvollziehen kann.

Es spielt dabei keine Rolle, ob man in der DDR gelebt hat oder nicht, oder ob man die Zeit erlebt hat oder nicht. Jeder Betrachter wird darauf anders schauen. Und das ist auch gut und wichtig so. Vielleicht es für mich ein innerer Auftrag als Künstlerin, zwischen den verschiedenen Zeiten zu vermitteln.

VTph magazine: Als Künstlerin entblätterst du die Geschichte und gibst dem Betrachter auch mehrere Interpretationsmöglichkeiten…

AH: Ich war ja für die Arbeit zwei Jahre in der Stasi-Unterlagen-Behörde und habe recherchiert und ich wusste auch nicht, dass es in den 80er Jahren eine eigene Forschungsgruppe bei der Staatssicherheit gab, die den Auftrag hatte, in Absprache mit den ehemals sowjetischen Streitkräften, deren Sperrgebiete auszuspionieren. Das war wohl ziemlich besonders, wurde mir bei der Recherche in der Behörde erzählt.

Einer der Hauptgründe war wohl, dass der Unmut in der Bevölkerung der DDR so stark wuchs, weil so viele schlimme Dinge passiert sind, die nie an die Öffentlichkeit durften, aber immer noch wahrnehmbar waren, sodass die DDR-Regierung in eine Art Handlungszwang gekommen war. Diese Überwachung der Sperrgebiete durch die Staatssicherheit gab es aber auch für die Sperrgebiete der NVA. In den Arbeitsgruppen wurde dann tatsächlich alles dokumentiert, was innerhalb und außerhalb der Sperrgebiete passierte. Dazu gehörten Umweltsünden, Unfälle mit Munition, aber auch Vergewaltigungen, Raubüberfälle, Willkür, Flugzeugabstürze, Selbsttötungen. Alles wurde dokumentiert.

VTph magazine: Gab es auch eine Grenze für dich, wo du dir sagtest, bis dahin gehst du und ab da gehst du nicht weiter?

AH: Ich musste weiter gehen, ich musste es mir anschauen. Aber ich habe für mich beschlossen, das möchte ich nicht zeigen, das hilft der Arbeit nicht. Viel spannender ist ja eigentlich auch die Vermutung und das Rätsel. Genauso wie man ein eigenes Gefühl für die damalige Zeit entwickelt hat, hat man auch eine eigene Vermutungen über die Rätsel, die man aufgibt. In einer künstlerischen Arbeit kommt man ja viel mehr ins eigenständige Denken. Diese Bilder, die immanente Rätsel enthalten, sind oftmals viel stärker und fundamentaler und bleiben viel länger im Gedächtnis, als wenn man irgendetwas vom Anderen vorgesetzt bekommt.

VTph magazine: Das macht die Vielschichtigkeit deiner Arbeit ja auch aus – und andererseits ist es ein sehr großes Thema, auf welches du schaust: Du schaust dir Systeme an und den Menschen darin – der Mensch im System. Warum kehrst du immer wieder zu diesem Thema zurück?

AH: Das ist natürlich so, weil ich in ein bestimmtes System hineingeboren wurde und meine Kindheit in einem System verbracht habe. Ich habe meine eigenen Erinnerungen an dieses System und meine eigenen Gefühle dafür entwickelt. Meine Familie – wir waren ja in der Kirche und ich bin getauft – und auch die Freunde meiner Eltern haben viel diskutiert. Es gab damals eine Wahrheit am Küchentisch und es gab eine Wahrheit draußen, außerhalb der eigenen vier Wände. Das empfand ich früher als extrem anstrengend, da ich gern jemand bin, der schnell alle Karten auf den Tisch legt. Dieses Lügen oder Weglassen hatte mich als Kind zerrissen. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass politische Systeme die Menschen in der Gesellschaft prägen und nachhaltig beeinflussen. Gegenseitiges Verständnis ist die Voraussetzung für ein respektvolles Zusammenleben. Nur wer versteht und fühlt, was das Gegenüber erlebt hat, kann nachvollziehen, warum es so handelt.

VTph magazine: Ist daher dieses Buch und deine Sicht auf die Geschichte auch eine Form von Aufarbeitung?

AH: Ja, es ist eine Form von Aufarbeitung, wenn man es genau nimmt. Und das nicht nur für mich, sondern ich gebe auch anderen die Möglichkeit, die Geschichte aufzuarbeiten.

VTph magazine: Das berührt uns alle auch auf unterschiedlichen Ebenen. Die, die es erlebt haben, aber auch andere, die von außen darauf schauen und so die Dinge plötzlich auch noch einmal ganz anders verstehen. Wie kam es zu dieser Kooperation mit dem Fotohof Salzburg? War es dieser andere Blick aus Österreich, der das Nachschärfen möglich gemacht hatte?

AH: Die Verbindung zum Fotohof Salzburg war schon durch eine Ausstellung der vorangegangen Serie „Wüstungen“ da, die ich vor einigen Jahren zusammen mit Göran Gnaudschun dort zeigte. Zu Beginn des Projektes hatte ich ihnen auch schon die ersten Ideen zum Fotobuchprojekt „Geheimes Land“ vorgestellt. Ich hatte die Kollegen und Kolleginnen in Salzburg gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, dieses Buch mit mir zu machen. Sie haben sofort zugesagt. Sie fanden die Idee sehr spannend und es war auch der Fotohof, der mein Buch letztendlich beim Deutschen Fotobuchpreis eingereicht hatte.

VTph magazine: Hattest du den Eindruck, dass die Kollegen und Kolleginnen in Österreich noch einmal ganz anders auf deine Arbeit geschaut haben? Gab es Feedback, mit dem du nicht gerechnet hattest?

AH: Ich glaube, dass alle Menschen, die eine Diktatur nicht erlebt haben, und konkret diese DDR Zeit nicht aus dem Inneren heraus erlebt haben, dass sie immer andere Fragen stellen, die ich mir selbst nicht stelle und die sich jetzt erst auftun, wenn man sich mit der Arbeit beschäftigt. Da würde ich jetzt auch gar nicht sagen, es sind nur die Österreicher, die von außen darauf schauen, sondern es sind natürlich auch Menschen aus den alten Bundesländern oder anderen Ländern, in denen es keine Diktatur gab, oder Menschen, die jünger sind und die erst nach der Wende geboren worden sind. Sie alle stehen natürlich vor Fragen, die man ihnen beantworten muss. Das ist natürlich klar und auch spannend zugleich und auch immer eine Möglichkeit der Auseinandersetzung.

VTph magazine: Möchtest du uns noch ein paar neue Projektideen verraten und welche Pläne du hast?

AH: Ende des Jahres wird es erst einmal eine große Ausstellung in Potsdam zu dieser Arbeit geben und ich möchte auch das gesprochene Wort mit in den Raum hineinbringen. Von Studierenden möchte ich einige Auszüge aus den Stasi-Akten einlesen lassen. Dadurch wird die Ausstellung multidimensional und multimedial, es kommen Stimmen, Räume und Bilder zusammen. Es gibt natürlich auch viele neue Ideen für neue Projekte, die mir immer wieder begegnen. Aber ich kann jetzt noch nicht sagen, in welche Richtung es danach gehen wird. Vor allem schaue ich auch mal, wo ich Ende des Jahres stehe und was mich am meisten triggert, sodass ich sagen kann, das möchte ich mir jetzt näher anschauen. Dann erst beginnt der neue Prozess.

 

Interview: Nadine Ethner, März 2024


© all images by Anne Heinlein / Anne Heinlein „Geheimes Land“, Verlag Fotohof Salzburg