Wolfgang Tillmans

“Die Welt berühren”

Wolfgang Tillmans spielt in seiner neuen Ausstellung “Studio” in der Galerie Buchholz in Berlin vor allem mit Dimensionen – mit Raumdimensionen, Größendimensionen und Zeitdimensionen, und das simultan auf mehreren Ebenen.

Physisch bewegen wir uns durch seine vielen Räume hindurch, fast erkämpfen wir sie uns, diese Räume, die uns jeweils in eine ganz eigene emotionale Atmosphäre bringen. Über zwei Etagen hinweg berühren uns der Kern der Privatsphäre und gleichzeitig die Großzügigkeit von Tillmans. Eine Großzügigkeit, die es selten gibt, und die vor allem ein Akt des Schenkens ist. Uns wird Einlass gewährt, wir sind Gast und gleichzeitig empfangen wir: Das Geschenk einer unmittelbaren Nähe.

Das einzige Verbindungsglied, welches wir zur Verfügung gestellt bekommen, ist ein Filter. Es ist ein Farbfilter, der alle Dimensionen in changierende Farbnuancen bringt, die die Stimmungen und die unterschiedlichen emotionalen Ebenen der Bilder ausloten.

Vermeintlich goldenes Licht eines Herbstabends transformiert das Schattenspiel der Pflanzensilhouette in ein japanisches Theater. Die violettbraunen Palmenblätter, die, durch jene Sonne getrocknet, auf dem Boden verstreut sind, und die kleineren und größeren Palmen, die in seinem Studio meist mehr als nur Wasser und Sauerstoff ausgesetzt sind, erzählen von einem danse amoureuse.

Kleinformat versus Großformat. Digitalprint versus Farbkopie. Laserdruck versus Inkjet-Print. Vom Kleinen zum Großen, vom Chaos zur Ordnung, vom Intimen in die Welt.

So sind es hier Zeitdokumente einer Welt, deren Innenraum sich absolut und total mit der Welt als Außenraum misst. Dort der Ballungsraum einer Welt mit ihrem Reichtum und ihren Abgründen, ihrer Intensität, ihrer vibrierenden Energie – hier ein Innenraum, in dem sich die Welt durch einen ekstatischen Rausch mit ebenso starker Intensität neu komponiert, das Bild sich hierbei zu einer komplexen Bildkomposition manifestiert und somit zu einer neuen Bildikone wird.

So wie Tillmans Bildikonen für eine ganze Generation geschaffen hatte, nimmt er in dieser Arbeit “Studio” das Bild – die Fotografie – als neues Ausgangsmaterial und beginnt einen neuen, experimentellen Zyklus.

Das Bild im Bild. Der Rahmen ist nur ein Anschnitt, ein Ausschnitt, eine Wahl, eine Entscheidung und ein Urteil über einen Moment.

Fast poetisch und mit schonungslosem Rhythmus im Hintergrund: ein Rauschen, ein Ton, eine Stimme. Die Bilder sind es, die in Wirklichkeit ihre Stimme erheben und mit ganz intrinsischer Expressivität rufen, singen, schreien und in die Welt hinein lachen. Sie rufen nach all dem, was sie ausmacht, dabei immer das Extrem suchend: “Die Welt berühren!”

Am Rand stehen nur wir – das Bild im Bild betrachtend: den Ausschnitt, die Form, den Zeit- und Bildschnipsel.

Wolfgang Tillmans bringt uns so sein Experimentierlabor und Lebenslabyrinth als eine Collage unserer Zeit nahe, nun mit neuen Übereinanderlagerungen, Überschriften, Schichtungen und Abtragungen.

Eine neue Zeit mit ihrer Fülle und mit ihrer Leere, die uns mit ihren Spektralfarben, in die uns Tillmans Segment um Segment, Farbe um Farbe, Raum um Raum eintauchen lässt, einmal mehr berührt.

 

Nadine Ethner / April 2016


© all images by Wolfgang Tillmans / Courtesy Galerie Buchholz Berlin/Cologne/New York