Marianne Eigenheer

Marianne Eigenheer – „A Legacy“

What substance is handed down from generation to generation orally and in writing? What stories, questions and answers are carried and passed on? Marianne Eigenheer’s work „A Legacy“ is an artistic examination of time focused on the period of Swiss industrial history, which flourished thanks to the international trade of Swiss embroidery and Swiss lace before  World War I. These crafts, such as the silk ribbon weaving, had a long successful tradition in Switzerland.

Marianne Eigenheer deliberately engages part of her own family history, which is connected to this Swiss craft history, in her artistic work. Her grandmother had a thriving embroidery business in Lucerne. Embroidery on delicate and choice fabrics, lace, etc., which were created by female embroiderers from Appenzell, adorned dowries that were successfully sold abroad – most notably to England and the USA. Her grandmother operated her store despite several interruptions for wars and the Great Depression of the early 20th century until well into the 1950s. Marianne Eigenheer experienced much of this transformation herself, how from small, transparent paper templates finest handicrafts were developed of a quality which is not reproducible today.

These processed cloths also bequeath  stories. Experiences, intrinsic to this material, are revived by Marianne Eigenheer. She enlarges the materiality of the raw substance, the source material and thus approaches a not exclusively female, rather bourgeois background, makes this background visible, and displays details that are otherwise not perceivable to the naked eye: Every stitch, every stroke, every mark in the material suddenly shows the personal hand of the embroiderer. They are macro shots of a delicate and idiosyncratic world filled with ornaments and traces. Strange characters dance together – characters that can also be seen in Eigenheer’s drawings and paintings. They are intertwined, wrestling and juggling together in space. The oversized scans of the cloth and the transparencies of the templates act as a file and transform the characters into a map of an internal localization. History transforms into something new and only the photographic process renders the otherwise invisibly working people visible. The thousand-fold movement of the hands is suddenly comprehensible, minuscule impulses tell the smallest stories that maintain the sensitivity of this manual labor and retain the „errors“ within a near perfect composition. Irritations that often create and increase the charm of a handicraft work, and thus also give the craft something deeply human, remain. In the Arab world one wove an „error“ into precious carpets, because only Allah is perfect – and man can never attain the perfection of God. All this normally remains hidden. Only the magnification through the photographic eye allows this fascinating access to the world of these women who worked tirelessly at a small embroidery for days and weeks, to produce a decoration which was mostly not really „seen“.

„There I saw for the first time the personal signature of the embroiderers through the hand-sewn seams and surprisingly the small stitches were quite different: not the same size or consistent, but you could also see if someone was right-handed or left-handed. For me this was the first big surprise, after I had looked closer at these fabrics, that suddenly things were visible through the magnified image that you just could not notice with the naked eye.”

Marianne Eigenheer

Large scans and large prints operate like a magnifying glass and place the focus on the details. The white lace fabric and the almost century-old tracing paper templates transform into large dark mostly black and white works. The use and practicality shift to the background, behind to the story of the work’s creation. In the foreground are now the newly found materiality, the new surface and its symbolism. All these elements allow free associations, which are always possible in the graphic work of Marianne Eigenheer. The present hides under the high-resolution scan of the surface of these transparent papers.

Nadine Ethner / January 2017

Translation: Yasimin Kunz


Marianne Eigenheer – “A Legacy”

Welcher Stoff wird von Generation zu Generation mündlich wie schriftlich überliefert? Welche Geschichten, welche Fragen und welche Antworten werden weitergetragen und weitervererbt? Marianne Eigenheers Arbeit “A Legacy” ist eine Auseinandersetzung mit der Zeit – mit jener Zeitspanne der Schweizer Industriegeschichte, die ihre Blüte dank dem internationalen Handel mit  Schweizer Stickereien und Schweizer Spitze vor dem 1. Weltkrieg erlebte, hatte doch dieses Handwerk, wie z.B. auch die Seidenbandweberei, in der Schweiz eine lange erfolgreiche Tradition.

Marianne Eigenheer greift nun einen Teil der eigenen Familiengeschichte, die mit dieser schweizerischen Handwerksgeschichte verbunden ist, in ihrer künstlerischen Arbeit bewusst wieder auf. Ihre Großmutter besaß in Luzern ein gut florierendes Stickereigeschäft. Stickereien auf feinsten Stoffen, Spitzen etc., die  von Stickerinnen aus dem Appenzell geschaffen wurden, zierten z.B. Aussteuern, die vor allem erfolgreich nach England und in die USA verkauft wurden. Die Großmutter führte ihr Ladengeschäft trotz mehrerer Unterbrechungen durch Kriege und die Weltwirtschaftskrise vom Anfang des letzten Jahrhunderts bis weit in die 50er Jahre, so erlebte Marianne Eigenheer noch selber viel davon mit, wie aus kleinen Transparentpapiervorlagen feinste Handarbeiten entstanden, die in ihrer Qualität heute nicht mehr nachzuvollziehen sind.

Durch diese verarbeiteten Stoffe werden auch Geschichten vererbt. Erlebtes, im Stoffe Inhärentes,  nimmt Marianne Eigenheer wieder auf. Sie vergrößert die Materialität des Ausgangsstoffes und nähert sich somit einem nicht ausschließlich weiblichen, eher bürgerlichen Hintergrund an, macht diesen sichtbar und zeigt Details, die ansonsten nicht einmal mit bloßem Auge zu erkennen sind: Jeder Stich, jeder Strich, jede Markierung im Stoff zeigen auf einmal die ganz persönliche Handschrift der Stickerinnen. Es sind Makroaufnahmen einer filigranen und eigenwilligen Welt voller Ornamente und Spuren. Eigenartige Zeichen tanzen miteinander – Zeichen, die auch in den Zeichnungen und in der Malerei Eigenheers zu sehen sind. Sie sind miteinander verflochten, ringen und jonglieren miteinander im Raum. Die überdimensionalen Scans der Stoffe und die Transparentpapiere der Mustervorlagen fungieren als Mappe und transformieren die Zeichen in eine Landkarte innerer Verortung. Geschichte verwandelt sich in etwas Neues und erst der photographische Prozess macht die sonst unsichtbar arbeitenden Menschen sichtbar. Die tausendfache Bewegung der Hände wird auf einmal nachvollziehbar, die kleinsten Regungen erzählen kleinste Geschichten, die die Sensibilität  dieser Handarbeit und die “Fehler” einer fast perfekten Ausarbeitung beibehalten. Irritierungen, die oftmals den Reiz einer Handarbeit ausmachen und damit auch dem Handwerk etwas zutiefst Menschliches geben, bleiben. Im arabischen Raum wiederum webte man die “Fehler” in kostbare Teppiche mit hinein, denn nur Allah ist perfekt – und der Mensch kann nie die Perfektion Gottes erreichen. All dies bleibt normalerweise verborgen, erst die Vergrößerung durch das photographische Auge erlaubt diesen spannenden Zugang zur Welt dieser Frauen, die unermüdlich, tage- und wochenlang an einer kleinen Stickerei arbeiteten, die dann meist als Dekoration nicht wirklich „gesehen“ wurde.

“Da sah ich zum ersten Mal die persönliche Handschrift der Stickerinnen durch die handgenähten Nähte und erstaunlicherweise waren dann die kleinen Stiche ganz verschieden: nicht gleich groß oder  gleichmäßig, sondern man konnte auch sehen, ob jemand Rechtshänder oder Linkshänder war.  Für mich war das die erste große Überraschung, nachdem ich mir die Stoffe genauer angesehen hatte, dass in so einem vergrößerten Ausschnitt plötzlich Dinge sichtbar wurden, die man mit dem bloßen Auge eben nicht wahrnehmen konnte.”

Marianne Eigenheer

Große Scans und großformatige Abzüge wirken wie eine Lupe und legen den Brennpunkt auf die Details. Der weiße Spitzenstoff und die fast hundert Jahre alten Transparentpapiervorlagen wandeln sich zu großen dunklen, meist schwarzweißen Arbeiten. Die Nutzung und Anwendbarkeit verlagert sich in den Hintergrund, zurück in die Geschichte. Im Vordergrund stehen nun die neu gefundene Materialität, die neue Oberfläche und ihre Zeichenhaftigkeit. All diese Elemente lassen freie Assoziationen zu, welche auch im zeichnerischen Werk Marianne Eigenheers immer möglich sind. Unter dem hochauflösenden Scan der Oberfläche dieser Transparentpapiere verbirgt sich die Gegenwart.

Nadine Ethner / Januar 2017


© all images by Marianne Eigenheer // Courtesy Galerie von Bartha, Basel (CH)