Jens Liebchen

Tausende Kilometer mit dem Auto und der Kamera durch Los Angeles – Traum oder Albtraum? In seinem seit 2010 entstandenen Langzeitprojekt L.A. Crossing zeigt uns Jens Liebchen die Hauptstadt der bedingungslosen Mobilität so, wie sie von den meisten ihrer Bewohner bevorzugt wahrgenommen wird: durch die Fenster ihrer Autos. Aus dem fahrenden Auto heraus blickt Liebchen auf eine Stadt, die die Gegensätze von Utopie und Dystopie in sich vereint.

Jens Liebchen (*1970) arbeitet seit seinem Studium der Ethnologie als freiberuflicher Fotograf. Seine Arbeiten wurden weltweit ausgestellt und befinden sich unter anderem in der Sammlung der DZ BANK Kunstsammlung in Frankfurt a.M. und des Museum of Contemporary Art, Los Angeles. Liebchen lebt und arbeitet in Berlin.

VTph magazine: Jens, deine aktuelle Ausstellung deiner fotografischen Arbeiten aus der Serie „L.A. Crossing“ sind zur Zeit in der Helmut-Newton-Foundation zu sehen. Welches Feedback hast du schon zur Ausstellung bekommen und wie fühlt es sich für dich an, deine zeitgenössische Serie parallel zu den Arbeiten von Helmut Newton und anderen Fotografen und Fotografinnen zu wissen?

Jens Liebchen: Ja, ich gebe zu, es ist eine wirkliche Freude, in diesem Haus auszustellen und ich bin sehr froh, dass Matthias Harder meine Bilder in die Ausstellung HOLLYWOOD mit hinein genommen hat. In seinem kuratorischen Konzept erweitert er den Blick auf die Film- und Fashionwelt Hollywoods um Bilder, die sich mit der Stadt und ihrem sozialen Gefüge auseinandersetzen, und da passen meine Bilder natürlich wunderbar. Matthias kennt meine Arbeit schon sehr lange und ich wußte auch, dass die Ausstellung mit sehr unterschiedlichen zeitgenössischen Positionen geplant ist. Dass meine Bilder nun zusammen mit Philip-Lorca diCorcia und Ed Ruscha in einem Raum ausgestellt werden, ist natürlich wunderbar. Es harmoniert alles miteinander. Besser geht es eigentlich nicht. Und insgesamt bekommt die gesamte Ausstellung unheimlich gute Credits, eben weil so viele unterschiedliche Aspekte in und um Hollywood miteinander verknüpft werden. 

VTph magazine: In deinem Raum sehen wir als Betrachter auch noch einen violetten Farbton an den Wänden, der zu deiner Serie sehr gut passt. Hattet ihr euch alle zusammen für diese Wandfarbe entschieden oder wie kam es zur Wahl speziell dieser Farbe?

JL: Das Konzept für die Wandfarben der gesamten Ausstellung macht die Helmut Newton Foundation mit ihrer Farbberaterin. Das ist das übergeordnete Konzept. Die Farbe war dann für mich also plötzlich da – wenn man so will, hat die Farbe mich gefunden. Und ich finde, das passt wunderbar. Für mich war eher die Rahmung wichtig, denn das Resultat einer guten Rahmung ist manchmal auch eine totale Überraschung. Man plant den Rand, das Profil, den Grauton, die Tiefe des Rahmens und muss an so viele Details denken, denn all das hat unglaublich großen Einfluss auf die gesamte Wirkung der Bilder. Wir haben uns dann immer näher ran getastet. Man hätte auch noch tagelang weiter diskutieren können. Am Ende hatte sich dann alles gut zusammengefügt.

VTph magazine: Wo fängt deine Entscheidung als Künstler an und wo hört sie auf?

JL: Matthias Harder hatte mir damals diesen Raum und diese Wände mit diesen zwei Seitenwänden angeboten und exakt dafür habe ich die Fotografien ausgewählt. Das war nicht ganz einfach, denn ich hatte ja nun wirklich sehr viel Material. Seit 2010 habe ich an der Serie „L.A. Crossing“ gearbeitet, und insgesamt bin ich sechs Mal vor Ort gewesen. Dabei war ich immer von morgens bis abends im Auto unterwegs und habe fotografiert – das war eine sehr intensive Arbeit. Und es heißt auch, ich hatte sehr viel Material, wovon natürlich eine bestimmte Anzahl von Bildern meine persönlichen Favoriten sind. Was ich dann sehr genau geplant habe, war vor allem die Bildanordnung und die Reihenfolge. Matthias hatte mir freie Hand gelassen, aber er hatte mir schon auch gesagt, welche Bilder er besonders gut findet und wir waren uns da auch schnell einig. Ich habe die Ausstellung dann mit klein ausgedruckten Bildern simuliert, da sieht man dann sofort welche Arbeiten zusammen passen.

VTph magazine: Portraits und Nahaufnahmen von Gesichtern sehen wir allerdings nur sehr selten. Wolltest du den fotografischen Rhythmus deiner Serie nicht auch einmal mit Portraits aufbrechen?

JL: Menschen sind ja der zentrale Punkt der Arbeit, auch wenn man sie nur auf wenigen Bildern sieht. Das hat natürlich mit der Art und Weise zu tun, wie diese Stadt organisiert ist. Denn jeder, der es sich leisten kann, fährt mit dem Auto und nur die, die daran nicht teilhaben können, sind zu Fuß unterwegs. Bilder, wie die von Obdachlosen, sind mir dabei sehr wichtig. Ich wollte unbedingt diese Seite der Gesellschaft zeigen. Ich bin auch Anfang Februar diesen Jahres noch einmal nach L.A. geflogen und habe ganz gezielt nach diesen Bildern gesucht. Mir war auch wichtig, ältere und neuere Arbeiten zusammen zu bringen. Die Fotografien aus den unterschiedlichen Jahren passen tatsächlich wunderbar zueinander, obwohl die Bilder über einen Zeitraum von zwölf Jahren entstanden sind. 

VTph magazine: Wir sehen auch unterschiedliche Perspektiven: Einmal sehen wir deine Perspektive, wenn du aus dem fahrenden Auto schaust und fotografierst, und zum anderen nehmen wir die Perspektive des Betrachters ein, wenn wir uns deine Bildauswahl und deine Zusammenstellung anschauen.

JL: Bei der Auswahl der Bilder für die Ausstellung war mir wichtig, dass diese von nahem, also als Einzelbilder funktionieren, aber auch als Gesamtansicht, wenn man aus Entfernung in den Raum und auf die Serie schaut. Zwei der ausgestellten Arbeiten sind sehr farbig und intensiv. Ich habe diese nun so angeordnet, dass sie auf Entfernung wirken und die Arbeit strukturieren. Dann war mir natürlich bei der Bildauswahl auch wichtig, in welcher Perspektive ich fotografiert habe. Wenn man sich jetzt die Wände anschaut, ist es, als könne man einen Rundumblick machen. Grundsätzlich ist es bei der Bildauswahl ja so, dass es auch immer Bilder gibt, die sind zwar wertvoll, aber sie finden keinen Platz, weder im Buch noch in der Ausstellung. Und manchmal ist es dagegen so, dass auf den ersten Blick schwächere Bilder, die in einen anderen Kontext gesetzt werden, auf einmal richtig stark sind. Wenn du ein gutes Editing machst und eine gute Idee hast, kannst du eigentlich alles machen.

VTph magazine: Erzähl´ uns gern mehr über den Ausgangspunkt deiner Serie.

JL: 2010 wurde ich zu der Residency „The La Brea Matrix Project“ nach Los Angeles eingeladen. Markus Schaden initiierte das damals. Er hatte große Faszination für die inzwischen ikonische Fotografie „La Brea Avenue/ Beverly Boulevard“ von Stephen Shore aus dem Jahr 1975 und nahm das Bild als Ausgangspunkt, um von dort aus neue fotografische Projekte entstehen zu lassen. 2010 war ich das erste Mal nach L.A. eingeladen, und es war natürlich eine großartige Chance und auch Freude, in diesem Kontext eine eigene Arbeit zu entwickeln.

VTph magazine: Lange Straßen und Highways, die wir alle aus den großen Kinofilmen von Hollywood kennen, bilden eine eigene Realität, und sie spannen den Bogen zur Ausstellung.

JL: Es ist wirklich so: Alle fahren Auto nonstop und alle verbringen jeden Tag Stunden im Auto. Deshalb sehen wir ja auch diese Klischees in den Filmen, dass sich die Männer im Auto rasieren und sich die Frauen dort schminken, sich Essen mit ins Auto nehmen oder ihren Kaffee. Das ist die Kultur des Coffee to go. So bin ich auch erst einmal Auto gefahren und habe begonnen mir fotografische Notizen zu machen. Dabei ist ein Bild entstanden, in dem Teile und Elemente des Autos mit im Bild waren. Und das war für mich ein wirklich gutes, eigenständiges Bild und ich dachte, es würde vielleicht Sinn machen, in dieser Richtung weiter zu arbeiten. Der Hintergedanke war, dass Stephen Shore ja in seinem Bild auf die Straße und darüber hinweg auf die Stadt blickt und ich diesen Blick nun umkehre. Ich schaue also von der Straße zurück auf die Stadt. Das war die Grundidee, die meine Arbeit mit der von Stephen Shore in Dialog bringt.

Ursprünglich komme ich ja aus der Ethnologie. Menschen interessieren mich daher besonders. Aber, wie eben schon kurz angesprochen, sind auf meinen Bildern erst einmal nur sehr wenige Menschen zu sehen. Die überwiegende Zahl der Menschen befindet sich im Auto. Auf der Straße siehst du fast niemanden. Nimm z.B. das Foto von dem Paul Smith Store: Vor dem Geschäft befindet sich ein großer Parkplatz, die Kunden fahren vor, parken, gehen rein und wenn sie fertig mit shoppen sind, setzen sie sich wieder ins Auto und fahren ins nächste Geschäft, selbst wenn dieses nur 200 Meter entfernt ist. In L.A. fährt man mit dem Auto auf den Friedhof bis ans Grab. Kein Scherz. Wie crazy ist das eigentlich? Und dann ist da immer wieder der Gegensatz zwischen Arm und Reich. Es gibt einen geradezu obszönen Reichtum, der eben jener Armut diametral gegenübersteht, die an vielen Orten in der Stadt sichtbar wird. Ich kann dir jetzt wirklich keine Zahl nennen, wie viele Menschen genau obdachlos sind, aber es ist Alltag. Mir war es wichtig, auch diese Seite zu zeigen. Durch Corona haben auch in Hollywood und in L.A. insgesamt unglaublich viele Menschen ihre Jobs verloren. Und es kommen sehr viele Obdachlose aus dem ganzen Rest des Landes dazu, weil es in Kalifornien eben warm ist. Es ist an vielen Orten wirklich total schockierend und ich frage mich immer, wie hält eine Gesellschaft das eigentlich aus?

VTph magazine: Ja, wir kennen diese Bilder von Amerika, aber so etwas entsteht ja nicht von einem Tag auf den anderen. Das sind ja Entwicklungen, die sich über Jahrzehnte zuspitzen. Und irgendwann wächst man mit diesen Bildern auf, dann sind diese Bilder plötzlich selbstverständlich.

JL: Genau das möchte die Arbeit hinterfragen. Wie funktioniert so eine Stadt und ist so eine Stadt in ihrer Konstruktion überhaupt zeitgemäß? L.A. befindet sich ja eigentlich in der Wüste. Und es wird trotzdem wahnsinnig viel Wasser verbraucht. Aber Wasser, das merken wir jetzt auch in Europa, ist eine sehr kostbare Ressource. All das sind natürlich Fragen, die auch für uns in Europa wichtig sind.

VTph magazine: Den CO₂-Ausstoß und neue Mobilitätskonzepte vor dem Hintergrund des Klimawandels diskutieren wir ja auch in Europa sehr intensiv.

JL: Ja, denn irgendwie stoßen wir ja alle an unsere Grenzen. Und L.A. war natürlich immer ein Versprechen! Zu der Zeit, als Stephen Shore besagtes Bild fotografiert hat, in den Siebzigern, ist man einfach rumgefahren… Es gab damals diese ganzen Probleme noch gar nicht – zumindest kein Bewusstsein dafür. Dazu kommt der eben schon erwähnte Arm-Reich-Gap, der immer größer wird – auch in Europa. Das stellt diese Arbeit auch noch einmal in den Kontext der Hollywood-Ausstellung. Die Fassade sieht toll aus, aber alles andere ist Illusion.

VTph magazine: Den Reichtum der Hollywood- oder Tech-Milliardäre siehst du nicht wirklich, oder?

JL: Den siehst du eigentlich nicht direkt. Die Stadt ist ja riesig groß und ich habe wirklich große Entfernungen zurückgelegt. Ich war hauptsächlich zwischen Santa Monica und Downtown unterwegs, auch Beverly Hills, Hollywood, etc. Das deckt schon eine ganze Menge ab. Aber in Beverly Hills und den teuren Wohngegenden in den Hills gibt es eigentlich wenig zu fotografieren. Es ist alles dicht. Die Villen sind eingezäunt von Hecken, Mauern und Zäunen. Da läuft höchstens mal jemand mit einem Hund lang, oder zehn Hunden, es könnte dann ein Hundesitter sein. Der Reichtum spielt sich eher im Inneren ab. Wenn du dort eingeladen bist, fährst du mit deinem Auto auf ein Grundstück und triffst dann deine Freunde in ihrer Villen. Das Chanel-Bild, was auch ein bisschen aus meiner Serie hervorsticht, habe ich im Frühjahr gemacht. Chanel befindet sich dort in direkter Nähe der teuersten Einkaufsstraße, dem Rodeo Drive. Dass das Chanel-Bild so entstanden ist, freut mich wirklich sehr, denn es war eine schwierige Straße zum fotografieren. Ich habe dann dieses Bild auch für die Ausstellung ausgewählt, da Helmut Newton ja auch für Chanel fotografiert hatte, das ergänzt sich also gut auf mehren Ebenen.

VTph magazine: Und von all den Elementen des Autos hast du auch oft diesen Rückspiegel bewußt integriert. Dieser Rückspiegel ist ja fast eine Metapher: ein Blick in die Vergangenheit. Du siehst vorn durch deine Fensterscheibe das aktuelle Bild, aber im Rückspiegel siehst du deine Vergangenheit. Wie wichtig war es dir, beide Zeiten gleichzeitig zu zeigen?

JL: Zunächst einmal war es mir wichtig die Perspektive aus dem Auto sichtbar zu machen. Das ist ja sozusagen das Leitmotiv der Serie. Und da bieten sich natürlich unterschiedliche Elemente, mit denen ich immer wieder gearbeitet habe. Das ist der Rückspiegel im Inneren des Autos, der häufig angeschnitten ist, oder die Fensterrahmen, manchmal auch nur Reflexionen auf der Scheibe. Und dann sind da natürlich auch noch die Außenspiegel, die auch den Blick zurück ermöglichen. Und plötzlich schaust du nicht nur nach vorn, sondern du schaust auch zurück, siehst die Straße, die du entlang gefahren bist, siehst, wo du hergekommen bist. Matthias Harder nennt das Bild im Bild Konstruktionen. Das finde ich sehr interessant und schafft wirklich sehr komplexe Bilder. Dieses Experimentieren mit den unterschiedlichen Elementen macht den Reiz der Arbeit aus: Was integriere ich jetzt, ein Teil von dem Fenster oder von der Säule oder vom Rückspiegel?

VTph magazine: Du sagtest, du hast den ganzen Tag von morgens bis abends gearbeitet. Als Betrachter sehen wir aber immer ähnliche Lichtsituationen. War dir wichtig, dass wir jetzt keine kalifornische Sonnenuntergänge sehen? 

JL: Die Stärke der Bilder liegt woanders. Sie liegt eben nicht darin, angrenzende Palmen am Straßenrand zu zeigen. Diese Bilder gibt es natürlich auch, aber ich wollte diese Sujets nicht so stark thematisieren.

Was mir eher wichtig ist, ist wie präzise die Bilder sind, obwohl sie ja aus dem fahrenden Auto heraus fotografiert sind. Und trotz der Bewegung des Autos sind die Bilder total auf den Punkt – und das ist das Irritierende daran.

Insgesamt bin ich natürlich sehr froh, dass die Serie nun mit Buch und Ausstellung so präsent ist und auch der kritische Ansatz der Arbeit im Kontext der Hollywood Ausstellung so prominent gezeigt wird.

Interview: Nadine Ethner, September 2022


© all images by Jens Liebchen / Exhibition: „L.A. Crossing“ Helmut Newton Foundation Berlin, until November, 20 2022; Book: Jens Liebchen „L.A. Crossing“, Text by Matthias Harder, Hartmann Books