HELMUT NEWTON ONE HUNDRED

Auch in turbulenten Zeiten werden neue Ausstellungsformate eröffnet und kuratierte Ausstellungen nehmen neue Formen an. Wir sprechen mit Dr. Matthias Harder, Direktor und Kurator der Helmut Newton Foundation Berlin über seine Arbeit in schwierigen Zeiten, das enge und vertrauensvolle Verhältnis von Helmut und June Newton und über den Einfluss von Freundschaften.

VTph Visual Thoughts: Im Oktober und Anfang November 2020 wird Helmut Newton mit der Ausstellung HELMUT NEWTON ONE HUNDRED in Berlin geehrt und gefeiert. Die Arbeiten von Helmut Newton sind neben der Hauptausstellung in der Stiftung auch auf einer Outdoor-Wand in Berlin Kreuzberg zu sehen. Wie kam es zu dieser Idee, seine Arbeiten Outdoor zu zeigen? Hat diese turbulente Zeit, in der wir uns befinden, auch damit zu tun, neue Formate finden zu müssen?

Dr. Matthias Harder: Ja, eine solche Outdoor-Ausstellung hat es bislang nicht geben, und das ist kein Zufall. Es ist natürlich auch eine Reaktion auf die Corona-Krise. Wir verfügen zwar über großartige Ausstellungsräume, aber wir haben Anfang Oktober gerade erst die Ausstellung „America 1970s/80s“ eröffnet und können nicht gleich wieder umhängen. Außerdem können wir momentan ja gar nicht genug Menschen in unserer Stiftung empfangen, wie wir es zu diesem Anlass gern täten. So haben wir uns entschieden, raus in die Stadt zu gehen und die Möglichkeit mit der riesigen Wand am Kraftwerk, die sich uns bot, anzunehmen und dort etwas ganz Anderes, Experimentelles zu realisieren. Wir sehen dort knapp dreißig billboard-große Motive von Newton aus unterschiedlichen Zeitschichten und Genres, nicht nur seine Ikonen, kombiniert mit ein paar so prägnanten wie lustigen Zitaten des Berliner Fotografen.

Was wird außerdem im Fokus stehen?

Über diese 85m-Wand hinaus werden auf 250 City Light-Flächen, gesponsert von Wall, fünf Newton-Motive in der ganzen Stadt verteilt sein – und in der Stiftung selbst bieten wir eine kostenlose Film-Lounge an, wir screenen u.a. „The Bad and the Beautiful“, den neuen Newton Film von Gero von Boehm oder den „Sumo“-Film von Julian Benedikt. Die Outdoor-Ausstellung blitzt gewissermaßen nur kurz im Stadtraum auf und parallel läuft die Amerika-Ausstellung in unseren Wechselausstellungsräumen.

Mit welchen Herausforderungen habt ihr im Team zu kämpfen?

Wie alle anderen auch, zunächst mit home office, einem geschlossenem Museum, einer Programmverschiebung, der Unsicherheit, wie es wann weitergeht und einer neuen musealen Wegeführung für die Besucher – aber alles war weit weniger dramatisch als bei anderen Institutionen, in anderen Ländern. Die Besucher können, sobald das Museum nach dem zweiten Lockdown light wieder geöffnet ist, in den entsprechenden time slots wieder zu uns kommen. Das stimmt mich momentan recht zuversichtlich.

Die Helmut Newton Stiftung wurde von Helmut Newton im Oktober 2003 gegründet und mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz konnte ein Vertrag über die dauerhafte Nutzung des Erdgeschosses abgeschlossen werden. Du wurdest direkt von Helmut Newton angesprochen und ausgewählt und gleich von Anfang an mit dieser interessanten und wichtigen Aufgabe des Kurators betraut. Lass uns bitte kurz an diesem Moment teilhaben.

Ich traf Newton an seinem 80. Geburtstag das erste Mal, ihm wurde damals eine große Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie eingerichtet, erstmals übrigens für einen Fotografen an diesem Ort. Drei Jahre später hatte er mich zu einem Vier-Augen-Gespräch in ein Hotel am Kudamm eingeladen. Wir saßen stundenlang in der Bar und sprachen über Fotografie, weniger über seine als vielmehr über dasjenige mancher Kollegen und das Medium allgemein. Später kam seine Frau June dazu, und am Ende fragte er mich, ob ich nicht sofort als Stiftungskurator beginnen wollte. Ich sagte zu, musste allerdings zuvor noch meine feste Kuratorenstelle im Kunstverein Glückstadt kündigen. Seitdem bin ich Kurator und seit einem Jahr auch zusätzlich Direktor der Stiftung.

Helmut Newton Amica, Milan, 1982 © Helmut Newton Estate

Helmut Newton
Amica, Milan, 1982
© Helmut Newton Estate

Helmut Newton ist im Grunde ein Modefotograf und kein Aktfotograf. Wie sehr spielt Helmut Newton mit unserer Wahrnehmung?

Er spielte sehr viel mit der Wahrnehmung und den Erwartungshaltungen der Bildbetrachter. Er wechselte spielerisch schnell zwischen den Genres, entwickelte genreübergreifende Mischformen, veröffentlichte mitunter die gleichen provokativen Aufnahmen in der französischen Vogue und im Playboy. Wir können uns nie sicher sein, was in seinen Bildern wahr ist und was nicht. In der Tat ist Newton in erster Linie Modefotograf gewesen – und einer der besten, die es je gab.

Die zeitlose Eleganz der Fotografien von Helmut Newton reicht bis heute. Welche Art von Publikum und welche Generationen erreichst du mit den wechselnden Ausstellungen in der Stiftung?

Wir erreichen durch unsere unterschiedlichen Ausstellungen, unterstützt von social media, ein bißchen Werbung und zahlreichen Presseartikeln, quasi alle, jung und alt, Frauen und Männer, Experten und Menschen, die das erste Mal ins Museum gehen. Das ist großartig.

Werden die von dir kuratierten Ausstellungen den Räumen angepasst oder gibt es schon vorher ein grobes Raumkonzept für die Hängung?

Das geschieht parallel, ich entwickele zunächst eine konkrete Ausstellungsidee und sammle Fotografen und Fotografinnen, die möglichst unterschiedlich zu diesem Thema gearbeitet haben, auf einer virtuellen Liste. Das sind am Anfang stets viel zu viele, doch dann setze ich die Ausstellung vor dem inneren Auge etwas konkreter zusammen und überlege, wo ich welche Bilder bekommen kann. Einige Werkgruppen sind schlicht nicht groß und umfangreich genug für unsere großen Räume, insofern fällt da schon die erste Entscheidung. Ich arbeite sehr gern mit den Fotografen und Fotografinnen persönlich zusammen, wenn sie jedoch nicht mehr leben oder mich auf ihre Galerien und Sammler verweisen, frage ich dort an. Durch die entsprechende Verfügbarkeit regelt sich weiterhin die Verteilung in den Ausstellungsräumen. Aber am Ende fügt sich alles bislang immer sehr schön und spannungsreich zusammen, finde ich.

June und Helmut Newton hatten einen sehr großen Freundeskreis von befreundeten Fotografen. Ihre persönliche Sammlung in ihrem Haus in Monte Carlo hattest du im letzten Jahr vorgestellt und sie ist unglaublich facettenreich. Man spürte diese Freundschaften und die persönlichen Verbindungen zwischen June und Helmut und den anderen. Wie kam es zu dieser Ausstellung?

Ich war in den letzten Jahren mehrfach bei June in Monte Carlo und kenne auch die private Sammlung ganz gut, die damals in Korridoren und Badezimmern dicht an dicht hingen. Bei meinem vorletzten Besuch habe ich die Überführung eines weiteren Schwungs an work prints, Polaroids und Publikationen nach Berlin organisiert und June gefragt, was mit ihrer Fotosammlung geschehen soll, ob die Stiftung nicht auch dafür der richtige Ort sei. Sie stimmte zu, und so konnte ich unmittelbar danach eine Auswahl der Bilder in „June’s Room“ zeigen. Vielleicht ist unsere Dauerausstellung im Erdgeschoss, die ich nach der großen Newton-Retrospektive neu ausstatten werde, auch langfristig ein guter Ort für die exquisite Sammlung, die natürlich auch viel über die beiden Sammler erzählt.

Spielen in der privaten Sammlung der beiden auch Obsession, Passion und Ästhetik eine Rolle oder ging es eher um die Freundschaften?

Ich denke, es bildet sich hier beides ab. Es sind auch viele Geschenke unter den Bildern, mit den entsprechenden Widmungen von Kollegen, Galeristen oder Verlegern.

Helmut Newton Claudia Schiffer, Vanity Fair, Menton, 1992 © Helmut Newton Estate

Helmut Newton
Claudia Schiffer, Vanity Fair, Menton, 1992
© Helmut Newton Estate

Welche großen Vorbilder hatte Helmut Newton selbst und von wem ließ er sich inspirieren?

Newton selbst nannte drei Namen: Martin Munkasci, Erich Salomon und Brassaï. Seine Lehrerin Yva hatte er überdies bewundert, wie wir in seiner Autobiografie lesen können. Doch es sind nicht unbedingt andere Fotografen und Fotografinnen, die ihn zu eigenen Bildern inspirierten, es waren auch Schriftsteller wie Stefan Zweig, weiterhin Kriminalromane, anonyme Zeitungsfotos oder Filmszenen von Hitchcock.

Helmut und seine Frau June Newton, die unter dem Pseudonym Alice Springs fotografierte, hatten eine sehr lange und intensive Arbeits- und Liebesbeziehung. Ist eine Zusammenarbeit zweier Künstler eher befruchtend oder ist sie oftmals auch von großen Spannungen geprägt? Wie siehst du das bei den beiden?

In diesem Fall war es auf jeden Fall sehr befruchtend. Beide hielten sich mit Lob und Kritik für das Werk des jeweils anderen nicht zurück. June gab alle Bücher von Helmut heraus, und es gibt das wunderbare gemeinsame Porträtprojekt „Us and Them“, wo wir an den Bildpaaren sehen, wie unterschiedlich die beiden vorgegangen sind, wenn sie prominente kreative Geister fotografierten – und wie sehr beide im Porträtfach auf Augenhöhe agierten.

Deine kuratorische Laufbahn begann mit der Arbeit von Walter Hege und du hast im Laufe der Zeit den Bogen zu Helmut Newton gespannt. Welche Gemeinsamkeiten haben beide?

Da gibt es keine Gemeinsamkeiten. Ich habe mich neben Hege und Newton ja auch noch mit etlichen anderen Fotografen und Fotografinnen beschäftigt, teilweise intensiv. Ich liebe das Individuelle eines und einer jeden, die mich auf unterschiedliche Weise fesseln können. 

Denn ich persönlich beschäftige mich parallel mit jeder Art von Fotografie. Meist werde ich auch angesprochen, wenn ein Künstler einen Ausstellungstext oder einen Katalogbeitrag wünscht und wenn mich das, was ich auf den ersten Blick sehe oder spüre, interessiert, bin ich meist auch in der Lage, etwas darüber zu schreiben oder zu sagen.

Hat sich die Sichtbarkeit von Fotografinnen in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren geändert und werden Kuratoren sensibler dem Thema „Women in Photography“ gegenüber?

Ich war neulich im Nomierungsgremium für einen Fotopreis und anschließend in der Jury – und wie selbstverständlich wurden viel mehr Fotografinnen vorgeschlagen als Fotografen. Und den Preis hat schließlich auch eine Frau bekommen. Ich finde, es hat sich einiges in dieser Hinsicht geändert in der letzten Zeit.

Und worauf dürfen wir uns in den nächsten Jahren freuen?

Bei uns in der Helmut Newton Stiftung vor allem auf die große neue Retro von Newton im Juni 2021 – und hoffentlich auch wieder auf Arles im Juli im nächsten Jahr und die Paris Photo.

 

Interview: Nadine Ethner, November 2020


© Helmut Newton Estate / Installation view by Uwe von Loh / „HELMUT NEWTON ONE HUNDRED“ – die große Outdoor-Ausstellung // 31.10. – 16.11.2020 Köpenicker Straße 70, Berlin-Kreuzberg & America 1970s/80s Hofer, Metzner, Meyerowitz, Newton in der Helmut Newton Foundation  www.helmut-newton-foundation.org