Max Dax

Max Dax, Kunst- und Musikpublizist, ist zu Besuch in den Ateliers in Berlin, Düsseldorf oder New York und gibt in der Ausstellung „My Abstract World“ im me Collectors Room/Stiftung Olbricht Einblicke in die Künstlerseele. Er bittet einige Künstler, über Musik zu sprechen und dem eigenen visuellen Kunstwerk eine auditive Komponente gegenüberzustellen. Ein Gespräch mit Max Dax.

VTph: Max Dax, von Ihnen weiß ich: Sie legen gleich los! Deshalb, die besten Fragen zuerst.

Max Dax: Shoot!

VTph: In Ihrem Buch „Dreißig Gespräche“ gibt es auch ein Gespräch mit Nana Mouskouri. Sie reden über dieses und jenes, und dann fragen Sie auf Griechisch: „τι ειναι τσ ρεμπετικσ? Was ist Rembetiko?“ Das war der Moment, in dem das Gespräch magisch wurde. Plötzlich beginnt sie Dinge zu erzählen, die man von ihr nie zuvor gehört hat.

Max Dax: Danke! Sie ist eben ganz anders, als man so denkt. Viele meinen, sie sei einfach eine berühmte Schlagersängerin, aber dass sie eigentlich ihre Wurzeln ganz woanders hat, das kann man nicht oft genug wiederholen. Ihre Familie war im Zweiten Weltkrieg in der griechischen Resistance. Ihre ersten Erfolge feierte sie trotzdem in Westdeutschland nach dem Krieg. Sie singt in jeder Sprache andere Lieder und Genres. Sie konnte mir alles über Rembetiko erzählen, die Musik der Eckensteher, Haschischraucher und Taugenichtse, sie wusste über alles ganz genau Bescheid. Das allerabsurdeste aber war, dass sie mich an meine Großmutter erinnerte.

VTph: Tatsächlich?

Max Dax: Ja, die Begegnung mit ihr war vom ersten Moment an seltsam vertraut. Mir saß meine Großmutter gegenüber. Das habe ich ihr natürlich nicht gesagt, aber es erklärt im speziellen Falle Nana Mouskouris, weshalb ich mich ihr gegenüber so normal verhalten habe, als wäre ich ihr Enkel. Und sie spürte das wahrscheinlich auf eine Art.

VTph: War Mouskouri Ihrer Großmutter physisch oder eher vom Gemüt her ähnlich?

Max Dax: Sowohl als auch. Meine Großmutter ist nicht aristokratisch gewesen, aber sie hatte eine aristokratische Art. Leider ist sie schon gestorben. Die gleiche vornehme, aristokratische Art hat auch Nana Mouskouri, die sich elegant wie eine Prinzessin durch die Welt bewegt.

VTph: Das ist sie ja auch. Eine schöne Stimme hebt immer auch den Menschen.

Max Dax: Immer wenn es eine echte Stimme ist! Es gibt ja auch den Trend zur körperlosen Stimme – als ob man Angst vor den echten Stimmen hätte.

VTph: Also die Stimme, die nicht von innen oder tief aus der Lunge kommt?

Max Dax: Die Stimme, die imitiert, die versucht, so zu klingen wie jemand ganz anderes oder die so sein will wie das, was der Markt von einer Stimme erwartet, ist oft körperlos und vermag nicht unsere Seele zu erreichen. Es gibt dabei ganz verschiedene Arten von verstellten, körperlosen Frauenstimmen. Während in den Achtzigern Elizabeth Fraser von den Cocteau Twins tatsächlich eine ätherische Stimme hatte und uns alle verzauberte, gibt es spätestens seit dem Erfolg von Cat Power einen riesigen Chor der sanft schmeichelnden, wie generisch wirkenden Klon-Frauenstimmen, die auf mich wirken, als stünden sie für ein neues, angepasstes Frauenselbstverständnis. Dem Mann hingegen ist es erlaubt zu singen, wie seine Stimme es erlaubt oder diese vielleicht sogar noch zu betonen, was dazu führt, dass hier ein größeres Spektrum zu hören ist – von der müden über die kaputte bis hin zur abstrakten Stimme. Der Mann darf das. Aber eine Frau darf so Vieles offenbar nicht. Um nun wieder zurückzukommen zu Nana Mouskouri: Sie hat sich darum nie geschert! Und damit steht sie auf eine bizarre Art und Weise für etwas. Sie ist ja jetzt nicht gerade eine Feministin, aber sie steht für starke Prinzipien. Ich mag Prinzipienfestigkeit. Und wäre ich Sängerin, wären es Frauen wie Nana Mouskouri – oder Nina Simone oder Nicolette –, die mich vielleicht ermutigen würden, meinen eigenen Stil zu finden und nicht den Stil der anderen zu imitieren, um dem Markt zu gefallen.

VTph: Ja, das ist interessant! Ich entdecke zum Beispiel erst seit einigen Jahren eine gewisse Unabhängigkeit und Stärke der Frauen. Sie muss nicht mehr so oft danach schauen, ob anderen ihre Arbeit gefällt, obwohl sie natürlich als Künstlerin immer auch mit einem Publikum zu tun hat. Das ist auf ganz verschiedenen Ebenen sichtbar: Auch Wissenschaftlerinnen können total straight sein und schauen weder nach rechts noch nach links.

Max Dax: Ich habe kürzlich ein interessantes Gespräch mit der Schweizer Künstlerin Marianne Eigenheer gehabt. Sie war eine Zeitlang Kunstprofessorin und hat im Dialog mit ihren Studenten immer gesagt: „Ihr habt die Wahl. Ich kann euch beibringen, wie ihr in euch etwas findet, das euch entspricht, was euch auch unterscheidet von jedem anderen Künstler. Ich kann euch diese Kraft und diese Stärke geben – dass ihr dieses Leitmotiv, das ihr in euch tragt, weiterverfolgen und verfeinern könnt. Dann kommt der Erfolg vielleicht in ein paar Jahrzehnten. Oder ihr wollt berühmt werden. Aber das kann ich euch nicht beibringen, denn Berühmtsein ist heute vor allem Karrieremanagement, ein kluger Umgang mit den Regeln des Spiels.“ Das hat Marianne Eigenheer sehr gut auf den Punkt gebracht und lässt sich eins zu eins auf die Stimmen übertragen. Und nicht zuletzt koppelt es rück auf meine Musikauswahl für die Ausstellung My Abstract World.

VTph: Weil Sie sich im Vorfeld bereits mit der Verbindung von Kunst und Musik beschäftigt hatten?

Max Dax: Ja, diese Wechselbeziehung ist, wenn man so will, seit Jahren der rote Faden meiner Arbeit. Und für die Ausstellung habe ich einige der beteiligten Künstler gefragt, welche Musik sie gehört haben, als sie ihre Bilder malten. Und da wurde mir kein einziges kommerzielles Musikstück genannt, da waren nur Stücke dabei, die dieser Definition Marianne Eigenheers entsprechen. Mit Ausnahme vielleicht von Umm Kulthum – das ist die ägyptische Sängerin, die die Libanesin Etel Adnan oft beim Malen hört –, die war natürlich der singuläre Superstar ihrer Zeit, größer als Madonna, größer als Michael Jackson und Beyoncé, zumindest in der arabischen Welt. Umm Kulthum stellte in Punkto Popularität alles in den Schatten – gleichzeitig war sie die definitive Sängerin ihrer Zeit. Allen anderen Musiker und Stimmen, die hier in dieser Ausstellung zu hören sind – von Eliane Radigue über Gavin Bryars bis hin zu Palais Schaumburg –, ging es nie vorrangig um kommerziellen Erfolg oder um Anerkennung, sondern sie haben alle an ihrer Vision festgehalten, und wenn sie dann Erfolg hatten, dann vielleicht auch deswegen, weil sie so stur geblieben sind …

„Kunst ist nicht nur informiert von der Kunstgeschichte, Künstler reden nicht nur mit anderen Künstlern, Künstler besuchen nicht nur Ausstellungen und Museen. Nein, sie schauen sich auch Filme an, sie hören Musik, sie treiben Sport, sie gucken Fernsehen und gehen ins Kino. Sie lesen übrigens auch Bücher und reisen und suchen den Austausch mit anderen Menschen, die nicht notwendigerweise selbst auch Künstler sind. Und je klarer man sie nach diesen Einflüssen fragt, desto genauer sind ihre Antworten.“

Max Dax

VTph: Sie standen in Korrespondenz mit den Künstlern und haben sie teilweise auch in deren Ateliers besucht. Haben diese Gespräche die Musikauswahl beeinflusst? Oder wollten Sie auch eigene Positionen integrieren?

Max Dax: Es gab zwei Leitmotive in der kuratorischen Arbeit, nicht zuletzt aufgrund des engen Zeitrahmens. Gerne hätte ich mit allen Künstlern gesprochen, eine Art vollständiger Erhebung gemacht. Es wäre dann natürlich ein Vielfaches der Korrespondenz gewesen, aber diese Arbeit hätte eine kunsthistorische Bedeutung gehabt. Man stelle sich vor, es gäbe zu allen Arbeiten, die Thomas Olbricht gesammelt hat, eine Narration, die verifiziert, welche Musik im Atelier gehört wurde, als das jeweilige Bild entstand. Die Sammlung ist so groß, dass eine solche Erhebung tatsächlich Aussagekraft hätte. Leider war ein so gründliches Vorgehen in der Kürze der Zeit einfach nicht möglich. Andererseits leidet das Ergebnis nicht wirklich darunter, da man als Ausstellungsbesucher ja nicht mitbekommt was fehlt. Man sieht und hört ja nur, was da ist.

VTph: Es gibt zu insgesamt knapp einem Fünftel der Bilder eine Musikauswahl.

Max Dax: Die Hängung der Ausstellung war mir im Vorfeld bekannt. Ich wusste also, in welchen Räumen welche Bilder hängen und welchen Werken die Hängung eine Art Leuchtturmfunktion zuweist. Indem ich diese Gemälde bevorzugt abfragte, stellte ich sicher, dass es beispielsweise keinen Raum ganz ohne Musik gibt. Ursprünglich hat mich Julia Rust vom me Collectors Room gebeten, dass ich meine eigene Inspiration und was mir zu den Skulpturen oder zu den Fotografien einfällt, in die Ausstellung einbringen solle. Das haben wir dann in einem Gespräch aber zugunsten der Recherche aufgegeben. Es geht also gar nicht darum, dass Musik, die mir selbst etwas bedeutet, in der Ausstellung zu hören ist. Meine Lieblingsmusiker sind fast alle nicht vertreten.

VTph: Diese haben Sie nicht offenbart.

Max Dax: Nein, wozu auch? Es geht nicht um mich. Es geht um die Gemälde. Mit Gerhard Richter hatte ich einen vierwöchigen Email-Briefwechsel. Mit jeder Mail grenzte er das angefragte Bild immer genauer ein: „Welcher Titel? Welches Jahr? Welches Format?“ Darüber scheint er Buch zu führen. Schließlich konnte er ganz genau bestimmen, dass er ausgerechnet beim Malen von „Zwei Grau übereinander“ aus dem Jahr 1966, das in der Ausstellung zu sehen ist, keine Musik gehört hat! Eine solche explizite Ansage bedeutet dann auch für die Ausstellung: Es gibt keine Musik zu „Zwei Grau übereinander“. Ich kann ein „Nein“ als Antwort akzeptieren.

VTph: Das wäre kein Moment gewesen, um eine eigene Assoziation einzubringen?

Max Dax: Nein. Und selbst Richters Stille gehörte zu dieser tollen Reise in die These, dass Kunst nicht im hermetischen Raum entsteht und sich nicht bloß nur auf Kunst bezieht. Kunst ist nicht nur informiert von der Kunstgeschichte, Künstler reden nicht nur mit anderen Künstlern, Künstler besuchen nicht nur Ausstellungen und Museen. Nein, sie schauen sich auch Filme an, sie hören Musik, sie treiben Sport, sie gucken Fernsehen und gehen ins Kino. Sie lesen übrigens auch Bücher und reisen und suchen den Austausch mit anderen Menschen, die nicht notwendigerweise selbst auch Künstler sind. Und je klarer man sie nach diesen Einflüssen fragt, desto genauer sind ihre Antworten. Henning Strassburger hat mich kürzlich zu einem Vortrag über Bob Dylan an die Kunstakademie in Karlsruhe eingeladen. Da fragte ich ihn nach der Musik, die er beim Malen von „Soul Surfer“ gehört hatte. Und er erzählte mir, dass er eines Nachts in Las Vegas besoffen in den Pool des Golden-Nugget-Hotels gefallen sei und danach ganz überrascht war, dass die CD, die er in der Jackentasche verstaut hatte, den Sturz in das Chlorwasser überlebt habe. Die hat er sich dann nicht zuletzt deswegen genauer angehört, als er „Soul Surfer“ malte: Lightnin’ Hopkins „Bring Me My Shotgun“. Zu dieser Musik hat er dann darüberhinaus noch eine Serie von Skulpturen gemacht, die „Pool“ betitelt waren, sowie eine Serie von abstrakten Bilden. Dadurch, dass ich als Betrachter näheres über die Entstehungsgeschichte eines Bildes weiß, wird das Bild nicht anders. Es ist und bleibt für die Ewigkeit. Aber mein Zugang zu dem Bild verändert sich. Es gibt keine reine Kunst, die frei von weltlichen Einflüssen entsteht. Es gibt überraschende Zugänge, und es gibt Geschichten, die hinter den Bildern stehen. Und diese müssen ja nicht in Konkurrenz zu einer reinen kunsthistorischen Aufarbeitung stehen. Aber es ist schon bezeichnend, dass das keiner so richtig vor mir gemacht hat! Ich war auf alle Fälle sehr überrascht darüber, dass es im Internet kaum Material gab, das mir bei meinen Recherchen hätte hilfreich sein können.

VTph: Gab es auch Künstler, die Ihre Frage nicht beantwortet haben?

Max Dax: Ja. Es gab ein paar wenige Künstler, die nicht auf meine Anfragen reagiert haben. Bei diesen drei oder vier habe ich mir dann erlaubt – gemäß der ursprünglichen Beauftragung durch Julia Rust – selbst zu assoziieren. Ich habe in jedem dieser paar Fälle so viele Interviews mit dem Künstler wie möglich gelesen: Und so fand ich dann etwa im Falle Peter Halleys heraus, dass sein Onkel in Midtown Manhattan während der fünfziger Jahre befreundet war mit Jack Kerouac und Allen Ginsberg und den ganzen Beatniks. Die sind im Hause Halley ein- und ausgegangen. Im Grunde sind dort Ideen ein- und ausgegangen. Und da ist es dann eine meines Erachtens berechtigte Assoziation, dem Halley-Bild aus der Olbricht-Collection den „Bowery Blues“ von Kerouac zuzuordnen, der 1959 eine ganze Reihe musikalisch-poetischer Miniaturen über New York aufgenommen hatte, in denen er Gedichte über Klavier-Aphorismen von Steve Allen spricht. Ich mag falsch liegen, aber auf mich wirken Halleys Bilder wie urbane Abstraktionen eines vergangenen Manhattan, und ich höre in der Auseinandersetzung mit ihnen diese wunderschöne Musik von Kerouac und Ginsberg, die ja beide nicht nur Poesie geschrieben haben, sondern eben auch gesungen und Platten aufgenommen haben. Für beide gab es keine Trennung der Disziplinen.

VTph: Und wie kamen Sie bei Federico Herrero auf Arto Lindsay?

Max Dax:  Federico Herrero stammt aus Puerto Rico. In Interviews hat er immer wieder betont, wie relevant für ihn das Leben in den Favelas sei, das Leben und die Sounds der Straße, der Verkehr dort, die Gewalt. Und dann assoziiere ich die Musik von Arto Lindsay, der auf seinen Soloplatten die Bossa Nova und den Samba, die Musik der brasilianischen Favelas, dekonstruiert hat wie ein moderner französischer Philosoph. Lindsay hat aus den Favela-Musiken eine Hybridmusik gemacht, genauso wie Federico Herreros Bilder Abstraktionen von den Farben, von der Enge und von dem Leben in den Favelas sind.

VTph: Ich selbst komme ja vom fotografischen Bild und von der künstlerischen Fotografie und es gibt genau eine fotografische Position in dieser Ausstellung, der Sie eine Musik zugeordnet haben: Thomas Ruff. Standen Sie in Kontakt mit ihm?

Max Dax: Ja, wir kennen uns ganz gut, und ich habe ihn auch schon oft in Düsseldorf besucht, wo wir in seinem Garten Gespräche geführt haben, die nicht zuletzt von ihm selbst dann anschließend für Katalogveröffentlichungen ausgewählt wurden. Thomas habe ich eine SMS geschrieben. Ich wollte wissen, welche Musik er gehört hat, als er vermutlich über einen Zeitraum von mehreren Wochen seine „Substrat“-Bilder im Photoshop bearbeitet hatte. Keine drei Minuten später kam seine Antwort per SMS: „Wagner, rauf und runter. Such dir was aus!“ Zufälligerweise hatte ich mir ein paar Tage zuvor in Bayreuth den „Ring des Nibelungen“ angeschaut und mich intensiv mit der Frage der Leitmotive bei Wagner beschäftigt – und wie er das Musiktheater, also das Zusammenspiel der Musik mit dem Schauspiel, dem Bühnenbild, der Dramaturgie und dem Tanz als erster Komponist als Gesamtkunstwerk begriffen hatte. Beeindruckt von Bayreuth hatte ich Johanna Dombois’ und Richard Kleins tolles Buch „Richard Wagner und seine Medien“ gelesen. Es war also ein reiner Zufall, dass ich mich gerade in dem Moment mit Wagner beschäftigte, als Thomas Ruff mir das Mandat gab, mir „etwas auszusuchen“. Ich habe dann aus dem 3. Akt der „Götterdämmerung“ die III. Szene gewählt, weil hier das Konzept der Leitmotive so besonders klar zum Vorschein kommt: Die Leitmotive von Brunhild und der Walküren werden hier nur angedeutet, sie werden nicht voll ausgespielt, sondern sie überlagern sich. Das ist wirklich total genial! Das ist auf musikalischer Ebene das, was wir heute in der Literatur als intertextuelles Arbeiten bezeichnen. Wagner hatte 1876 etwas voraus gegriffen, das heute State of the Art ist: Durchlässige Ebenen schaffen, in denen verschiedene Ideen und Formen einander durchdringen und informieren können. Und siehe da, was ist „Substrat“?

VTph: Ist das eine Frage an mich?

Max Dax:  Ja, Sie sind die Fotografin.

VTph: Es ist das Filtern des Gefilterten des Gefilterten – Substrat ist ein Ausgangsmaterial…

Max Dax: Genau. Thomas Ruff fotografierte bunte japanische Manga-Comics, die er durch verschiedene Unschärfefilter, Gaußsche Weichzeichner und sonstige Werkzeuge der Postproduktion gezogen hatte, bis irgendwelche bizarren, fast schon psychedelische Formen entstehen. Theoretisch wäre es ja denkbar, dass, wenn man die Filter rückwärts auf die Bilder anwendet, man dann wieder zu den gestochen scharfen Mangabildern oder zu einer Comicerzählung zurückkäme…

VTph: Interessant. Das ist ja genau das, was Thomas Scheibitz über die Musik gesagt hat, die im Hintergrund lief, als er sein Gemälde gemalt hatte.

Max Dax: Der Song „Shitstorm“ von den Melvins…

VTph: Genau. Dort wird der Song rückwärts gespielt – vom Ende bis zum Anfang. Und Thomas Scheibitz fragt sich dann in seiner Malerei, wie er seine Bilder, von einer Abstraktion ausgehend, wieder zurück in die Welt bringen kann.

Max Dax: Ich finde es sehr interessant, dass zwei Künstler aus unterschiedlichen Gründen eine ähnliche Methode haben und dabei unterschiedliche Musik hören, diese Musik aber ähnliche Erkenntnisse birgt oder Gedankengänge anstößt. Und das sind natürlich Erkenntnisse, die ich nur habe gewinnen können, weil ich diese Fragen gestellt habe. Und deshalb wiederhole ich auch: Es wäre interessant, wie das aussähe, die gesamte Sammlung Olbricht auf diese Art und Weise zu katalogisieren und damit kunstgeschichtliches Neuland zu betreten. Die Sammlung Olbricht würde einen weltweiten Diskursimpuls setzen. Weg von der reinen kunsthistorischen Lehre, hinein in das Gebiet gegenseitiger Wechselbeeinflussung und vor allem neue Zugänge zur Kunst eröffnend. Und mal ganz ehrlich: Fast alle Künstler, mit denen ich gesprochen habe, haben ein Problem damit, dass sie von den Kunsthistorikern eine Art Firewall um ihre Gemälde gebaut bekommen, die viele Betrachter einschüchtert.

VTph: Sie haben keine Musik zu Adrian Sauers „16.777.216 Farben“ ausgewählt. Haben Sie hierzu spontan eine Assoziation?

Max Dax: Dazu assoziiere ich auf Anhieb Ryoji Ikeda und Carsten Nicolai. Sauers Fotografie ähnelt im Format einer LED-Wand, wie sie auch von Ryoji Ikeda und Carsten Nicolai benutzt werden. Es ist faszinierend, das weißgraue Rauschen nicht als störend wahrzunehmen sondern als schön. Aber noch lieber würde ich Adrian Sauer natürlich selbst fragen.

VTph: Und was fällt Ihnen zu Wolfgang Tillmans’ Arbeit ein?

Max Dax: Ich stand ja mit ihm in Kontakt, allerdings meldete er sich erst, nachdem meine Arbeit an der Ausstellung bereits abgeschlossen war. Wolfgang hat derzeit enorm viel zu tun in New York und Los Angeles. Vermutlich hätte ich „Device Control“ von Wolfgangs gleichnamiger EP genommen. Er ist ja jetzt selbst unter die Musiker gegangen, hat sogar ein Feature bei Frank Ocean.

VTph: Genau wie Tillmans reisen Sie viel. In welche Länder zieht es Sie eigentlich, wenn Sie es sich aussuchen können?

Max Dax: Ich reise tatsächlich sehr viel, aber ich fahre in der Regel dorthin, wohin man mich schickt oder wohin ich eingeladen werde. So bin ich selten Herr meiner Destinationen, sondern ich werde wie aus einem Würfelbecher in die Welt gewürfelt. Da ich sehr gut italienisch spreche und weil Organisatoren von Symposien oder Zeitungsredaktionen wissen, dass man mich ohne Dolmetscher zu Eros Ramazzotti oder Arrigo Cipriani schicken kann, weil man dadurch ganz stumpf die Kosten für einen Dolmetscher einspart, reise ich viel öfter nach Italien als nach Spanien, Russland oder Fernost. Und tatsächlich hat es mir im italienischen Süden Europas bisher von allen Orten am besten gefallen, weil es dort eine andere…, sagen wir mal so, weil es dort im Kern ein anderes Verständnis von Effizienz gibt. Ein Verständnis, das mir vielleicht mehr liegt als das meiner Heimat. Nördlich der Alpen gibt es so einen Konsens, dass alles stets Sinn und Verstand haben muss, dass alles vielleicht auch einer merkantilen Logik zu folgen hat, dass man stets pünktlich ist und dass man sich trifft, weil man etwas zu bereden hat. Aber nordeuropäische Effizienz bedeutet eben auch: Man ist nicht imstande, einen guten Kaffee hinzubekommen, macht aber ein irrsinniges Getöse um diesen.

VTph: Das ist ein Argument!

Max Dax: Kaffee ist wichtig. Ich fühle mich an Orten wohl, an denen es guten Kaffee gibt. In Athen, Neapel und Palermo. Und ich würde mich nicht wundern, wenn es am Schwarzen Meer, in Odessa oder Tiflis, auch einen guten Kaffee gäbe. Von Rio de Janeiro weiß ich es und von São Paulo vermute ich es. Das sind alles Städte, die anders organisiert sind als der Norden. Und deshalb zieht es mich hin zu diesen erratischen Orten. Und Berlin ist natürlich ein Sonderfall der Geschichte – ähnlich, wie Manhattan in den Achtzigern ein Sonderfall war und Hamburg St. Pauli im Kleinen in den Neunzigern – wo ich übrigens damals auch Wolfgang Tillmans kennengelernt habe.

VTph: Aha, ich habe auch den Eindruck, durch das, was ich von Ihnen gelesen habe, dass bei Ihnen selbst die Dinge gleich gewichtet sind: Emotionalität, Offenheit und Sensibilität befinden sich in einer guten Balance mit Theorie, guten Gedanken und Abstraktion…

Max Dax: Ist das so? Ich mache mir nur Gedanken über mich selbst, wenn ich danach gefragt werde. Ich hatte mein Leben lang das Privileg, faszinierende Leute treffen zu dürfen. Für ein Interview beschäftige ich mich mit einer Person ganz intensiv – für einen Tag. Und zwar egal, ob der Interviewte nun Bud Spencer heißt oder Friedrich Kittler. Ich begegne allen mit dem gleichen Respekt und verhalte mich nie konfrontativ. Natürlich ist dieses Eindringen in das Leben eines anderen stets auch ein Abenteuer. Es ist eine Biografie, die sich da öffnet. Am Ende des Tages finde ich wie Andy Warhol einfach alles interessant. Ich finde auch Rammstein, Scooter, Radiohead und andere Mainstream-Phänomene interessant, weil sie alle für das Verstehen der Gegenwart eine Bedeutung haben. Und ich bin genau an diesem Erkenntnisgewinn interessiert, und in diesem Sinne kann oft Kunst oder Musik, die mich persönlich gar nicht berührt, trotzdem überaus erkenntnisstiftend interessant sein. Und ich stelle ganz klar und nüchtern fest: Ich bin kein Fan. Und wenn ich es doch bin, dann ist das fast schon eine Privatsache.

VTph: Das hätte ich jetzt so nicht gedacht. Ich hätte gedacht, wenn man mit so vielen Persönlichkeiten spricht – ist da auch immer ein Moment Enthusiasmus dabei…

Max Dax:  Enthusiasmus? Es ist eher Empathie. Es geht doch beim Schreiben immer darum, etwas zu vermitteln. Für mich war es dabei übrigens hilfreich, meinen bürgerlichen Namen von Bauer in Dax zu ändern, weil ich als Autor im Rimbaud’schen Sinne mit einem Mal „je est un autre“ sein konnte. Ich habe mich da an dem Modell des Sängers Bob Dylan orientiert, der gar nicht Bob Dylan heißt, sondern Robert Zimmerman. Und ich kann es mir gut vorstellen, dass dieser Robert Zimmerman ein ganz anderer Mensch ist als die Bühnenpersona Bob Dylan. Er hat einst in einem Interview auf die ihm gestellte Frage: „Ist es eigentlich leicht, Bob Dylan zu sein?“ geantwortet: „Für mich sicher leichter als für Sie!“ Eine geniale Antwort.

VTph: In den Gesprächen öffnet sich Ihr Gegenüber und gibt sehr private Einsichten und Gedanken preis, aber dann nehmen Sie sich im entscheidenden Moment zurück…

Max Dax:  …weil es sich immer um den Versuch handelt, mit dem Anderen im Dialog etwas gemeinsam zu erschaffen – ein Portrait. Und das geht nur mit Empathie. Wenn die Empathie nicht da ist, dann gibt es gar keinen Grund sich zu öffnen. Umgekehrt sind die Gespräche meine persönliche Universität, oder, wie Juliette Gréco es so schön sagt: meine persönliche Ecole du Trottoir. Ich selbst habe nie studiert. Ich wollte damals ganz einfach mit den Leuten, mit denen ich auf die Oberstufe gegangen war, nie wieder etwas zu tun haben. Und mit dieser Entscheidung habe ich mich ganz klar um eine sichere Karriere gebracht. Und in der Konsequenz musste ich mich dann – im wahrsten Sinne des Wortes – auf der Straße durchschlagen. Aber das hat mich wiederum mit den interessantesten Menschen zusammengewürfelt, mit Kriminellen wie mit mittellosen Philosophen, mit Popstars und mit Gastronomen. Ich habe mit all diesen Menschen eine Stunde, einen ganzen Tag oder sogar noch viel mehr Zeit verbracht und habe mit ihnen gesprochen. Und daraus ergeben sich Rechte und Pflichten. Die Würde meiner Gesprächspartner hat geschützt zu werden, und gleichzeitig muss das Besprochene in Texte überführt, nicht selten komplex montiert und über Medien mit teilweise astronomischen Auflagen in die Welt hinausgejagt werden. Deshalb ist es ja auch so wichtig, dass alle Interviews immer autorisiert werden, damit sichergegangen wird, dass sich beide Gesprächspartner im Text wiederfinden. Das ist dann nicht zuletzt auch eine Empathie gegenüber jenen, die ich gar nicht kenne, die nur Leser des Interviews sind.

 

Interview: Nadine Ethner / 16.09.2016


“My Abstract World” im me Collectors Room/Stiftung Olbricht – mit Werken aus der Sammlung Thomas Olbricht inklusive dem Soundtrack von Max Dax / www.me-berlin.com

© Photo: Nadine Ethner