Johannes Wald

„Das Antlitz der Aphrodite“

Die Skulpturen aus der fotografischen Serie “Broken Entity” von Johannes Wald existieren nicht mehr – oder besser: Sie existieren nur noch dank unserer Vorstellungskraft. Die durch Kriege und Brände zerstörten Bronzeskulpturen oder Marmorbüsten eines Römers, einer Aphrodite, Johannes dem Täufer oder Herakles greift Johannes Wald wieder auf, in dem er das Herz der Gipsformerei der Staatlichen Museen zu Berlin in ein Set verwandelt und ausgewählte Gussformen, die zum Teil seit 200 Jahren in den Archiven lagern, radikal, klar und ohne Emphase auf grauem Grund fotografiert. Hintergrund und Komposition scheinen dem Flächen-Raum-Gefüge von Giorgio Morandis Malerei, den Grauabstufungen und kühlen Farbnuancen von Alberto Giacomettis Bildern oder den Licht- und Schattenkompositionen des Spätwerkes von Irving Penn entnommen zu sein.

Johannes Wald fotografierte den Kopf der Aphrodite oder den Kopf eines Römers, ohne in ihre Gesichter blicken zu können. Es sind Antlitze, die er enthüllt, ohne sie zu zeigen. In diesen auf warmen Barytpapier abgezogenen Schwarz-Weiß-Fotografien liegen die Voraussetzungen, die Gedanken von Skulptur. Der gewählte Titel der Ausstellung lending thought body, Den Gedanken einen Körper verleihen gibt diesem Konzept Raum. Seine Affinität zum Ausgangsmaterial, zu seiner Materialität und Immaterialität, verheimlicht Johannes Wald dabei nicht.

Fragmente werden zusammengefügt und in einem imaginären Raum weisen sie sich selbst einen Platz zu – in unserer Vorstellungswelt können sie sich behaupten. Eine Büste oder ein Torso, einst real, sind seit langem zu Staub zerfallen. Würde man einen neuen Gipsabguss der Originalskulptur in Auftrag geben, könnte im Negativabdruck des Hohlraumes eine neue Büste entstehen. In diesem Sinne befindet sich das Original in einem Hohlraum. Hier geht es aber nicht um einen neuen möglichen realen Abguss oder eine neue mögliche Skulptur, sondern durch die fotografierten Gussformen – die mit Kordeln und allerlei Metallverschlüssen, mit Seilen und Holzstückchen, Knoten und Schlingen, Metallschleifen und Schlaufen zusammengehalten und festgezurrt wurden – visualisiert Wald die Voraussetzung von Skulptur.

Johannes Wald folgt einer Spur. Er lässt den Positiv-Negativ-Gedanken der Fotografie auf die Positiv-Negativ-Form des Abgusses prallen. Beide Polaritäten zusammen ergeben ein Bild. Das Positiv für sich betrachtet ist immer nur ein halber Gedanke – nur das Zusammenspiel mit dem Negativ erschafft einen kompletten Gedanken und macht das Konzept rund. In der Mitte treffen sich beide Polaritäten und zwei Gegensätze ergeben ein Ganzes.

Die Sinnlichkeit versteckt sich hinter dem Konzept. Das physisch Sichtbare und Erfahrbare versteckt sich hinter dem Gedanken. So, wie es in der digitalen Welt die Möglichkeit von virtuellen Welten gibt, in denen Avatare zeitgleich an verschiedenen Orten, in virtuellen Räumen und in Parallelwelten leben können, so offenbart sich in den Fotografien von Johannes Wald unsere Vorstellungswelt in ihrer komplexen Polydimensionalität. Wald hebt den Schleier der Portraits und schenkt uns das Antlitz der Aphrodite. Es ist eine Aphrodite mit unzerstörbarer Schönheit – der Zeit enthoben. Sie behauptet sich im allgegenwärtigen Jetzt.

 

Nadine Ethner / Oktober 2016


© all images by Johannes Wald / Courtesy Daniel Marzona Berlin